Der Amoklauf in München zeigt den typischen Ablauf einer Krise im Zeitraffer

Werbung:

Marcus da Gloria Martins bei der Pressekonferenz heute (Screenshot von der Live-Übertragung)
Marcus da Gloria Martins bei der Pressekonferenz heute (Screenshot von der Live-Übertragung)

Gestern um 17:52 Uhr begann in München am Olympia-Einkaufszentrum der Amoklauf eines 18jährigen Deutsch-Iraners, der innerhalb weniger Minuten neun Menschen tötete und zahlreiche Menschen zum Teil schwer verletzte.

Die ersten Meldungen kamen etwa 18:00 Uhr. Medien meldeten über facebook, dass es eine Schießerei im Einkaufszentrum gegeben habe. Die Lage war völlig unklar, Einsatzkräfte wurden zusammengezogen. Es seien drei Täter gewesen, die nun flüchtig seien. Auch am Stachus, Marienplatz, Malteser und im Hofbräuhaus sei es zu Schüssen und Geiselnahme gekommen.

Die Polizei löste auf Grund dieser Meldungen die höchste Sicherheitsstufe aus. Schnell wird vermutet, dass es sich um einen Terroranschlag handeln könne. Verstärkungskräfte aus ganz Bayern und Baden-Württemberg machen sich auf den Weg, auch das GSG 9 wird gerufen. Tschechien schließt die Grenzübergänge nach Bayern und Bundesinnenminister Thomas de Maiziére bricht seinen US-Besuch ab.

Derweil erlebt die Landeshauptstadt München eine Situation, wie es sie vorher nie gegeben hatte. Der öffentliche Personennnahverkehr wird eingestellt, der Hauptbahnhof evakuiert, Straßen gesperrt, Läden geschlossen und die Polizei fordert alle Bürger auf, sofort nach Hause zu gehen beziehungsweise ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Wo Menschen auf der Straße zu sehen waren, wurden sie aufgefordert, Schutz zu suchen. München kam zum Stillstand.

Augenzeugen übernehmen erste Berichterstattung

Die ersten Bilder vom Tatort werden über Periscope verbreitet. Das ist eine Live-Video-App, mit der jeder Live-Videos aufnehmen und senden kann. Innerhalb weniger Minuten erreichte der Nutzer vor Ort über 140.000 Zuschauer.

Er kommentiert die Aufnahme ruhig und recht professionell, setzt sich aber auch einer Gefahr aus, denn wenn der oder die Täter – wie vermutet – noch unterwegs sind, steht er auf der dem Einkaufszentrum gegenüberliegenden Straßenseite sehr ungeschützt. Sein Beitrag dauert sechs Minuten – dann ist sein Akku leer.

In den folgenden Minuten kommen mehr und mehr Handyvideos zum Vorschein und werden auch begierig von den Fernsehsendern übernommen.

Das ist natürlich recht neu: Da heute fast jeder ein Smartphone mit Kamera hat, kann auch fast jeder in einer solchen Situation zum Berichterstatter werden. So stammen die ersten Bilder nicht von Journalisten mit professionellen Kamera-Teams, sondern von zufällig anwesenden Menschen.

Zeugenberichte und Anrufe führen zu falschen Annahmen

Ein Ereignis, wie ein Amoklauf oder ein Terroranschlag ist für alle Menschen in der Nähe ein traumatisches Ereignis ungeheurer Stärke. Eben noch war alles gewohnt in Ordnung und innerhalb weniger Sekunden bricht die Hölle aus. Das kann man nicht so einfach wegstecken und verarbeiten. Und so kam es zu einer ganzen Reihe falscher Informationen:

Es sollten drei Täter sein, die auch noch mit Langwaffen (Gewehren, Maschinengewehren, Maschinenpistolen?) geschossen haben sollen – und diese drei Täter seien jetzt auf der Flucht.

Zudem kommen von anderen Orten der Stadt Hinweise auf Schießereien und Geiselnahmen, es sieht so aus, als wären gleich mehrere Plätze in München betroffen.

Die Polizei muss zunächst annehmen, dass die gemachten Aussagen richtig sind und trifft auf Basis der Informationen die richtige Entscheidung: Lock down für München. Und damit den Tätern die Möglichkeit erschweren, auf der Flucht schnell weitere Strecken zurücklegen zu können.

Sondersendungen auf vielen Kanälen: Viele Spekulationen, wenig Information

Kurz nach 18:00 Uhr kommen die ersten Meldungen über die Nachrichtensender. Das laufende Programm wird unterbrochen und nun passiert das, was wir in der letzten Zeit leider häufiger erleben müssen: Die Informationen sind sehr dürftig, sie reichen eigentlich nicht aus, um eine Sondersendung zu bestreiten und mit ausreichend gesicherten Informationen zu befüllen.

Deshalb werden die Moderatoren gezwungen, die immer gleiche Basisinformation wieder und wieder zu wiederholen. Es tritt dabei ein Effekt ein, der gefährlich ist. Jeder Infoschnipsel, jede Aussage von Augenzeugen wird in die „aktualisierte“ Berichterstattung integriert und so entsteht dann ein Bild, das die tatsächliche Faktenlage nicht mehr richtig darstellt.

Tatsächlich entfernt man sich immer mehr von den tatsächlichen Fakten und reichert die Basisinformation mit allen möglichen Mutmaßungen und Gerüchten an und sorgt dadurch im Extremfall sogar für eine Massenpanik.

Es wird nahezu unreflektiert jedes Gerücht übernommen (zum Beispiel die Schüsse und Geiselnahme in der Innenstadt am Stachus) und so wird aus einer eigentlich auf das Einkaufszentrum und den Vorplatz beschränkte „lokale“ Einzelaktion eines Amokläufers, eine an die Terroranschläge in Paris erinnernde und die ganze Stadt umfassende Terroraktion. Nun ist jeder in München aktuell in höchster Gefahr und überall könnten Terroristen auftauchen und um sich schießen.

Es wird zu Korrespondenten geschaltet, die aus dem Nichts heraus zwei, drei Minuten füllen sollen, obwohl sie keinerlei zusätzliche Informationen haben. So erfährt man dann, dass der ARD-Hauptstadtkorrespondent in Berlin vom Savignyplatz im Stasdtteil Charlottenburg ins Regierungsviertel mit der S-Bahn gefahren ist und im Regierungsviertel keine erhöhten Sicherheitsmaßnahmen erkennbar seien. Dank Twitter können dann noch zwei, drei bestürzte Reaktionen von Politikern verlesen werden. Mehr ist nicht zu holen. Alles andere sind reine Spekulationen ohne Nachrichtenwert.

Sofort verfügbar sind auch die zunehmend fernseherfahrenen Terrorismus-Experten der jeweiligen Sender. Da auch diese eigentlich keine Informationen haben, muss auch hier viel improvisiert werden. Da es der fünfte Jahrestag des norwegischen Breivik-Anschlags am 22. Juli 2011 mit 77 Toten ist, wird über die Fragestellungen spekuliert, dass es sich auch um einen rechtsextremistischen Terrorakt handeln könne. Hier verhalten sich die Experten allerdings professionell und betonen, dass man noch nicht sagen könne, ob es tatsächlich einen rechtsextremen Hintergrund gebe. Die einzige richtige Reaktion auf die Spekulation.

Social Media unterstützt und gefährdet die Polizeiarbeit – erreicht aber auch viele

Social Media ist heute in einer Krisensituation wie in München die Mediengattung, die am Schnellsten reagiert, einen hohen Grad Authentizität erreicht und so anfangs den größten Einfluss erreicht und das Geschehen vielfältig dokumentiert.

Menschen twittern, schreiben auf facebook, streamen per Periscope und sind den Journalisten und Behörden zunächst einen Schritt voraus. Darin liegt aber auch die Gefahr, dass falsche Informationen übernommen und durch die Massenmedien weiter verbreitet werden. Sie verselbstständigen sich und führen (wie gestern in München) zu falschen Annahmen, die dann als im Fernsehen geäußerte Informationen Nachrichtenwert erlangen. Zudem muss die Polizei den Meldungen nachgehen, da es durchaus möglich gewesen sein könnte, dass diese Meldungen wahr sind.

In der heutigen Pressekonferenz mit Polizeipräsident, Polizei-Pressesprecher und Staatsanwaltschaft wurde betont, dass die Nutzer von Social-Media-Netzwerken Meldungen anderer Nutzer in einem solchen Krisenfall nicht einfach weiter teilen sollten, da dadurch die Situation noch unklarer werde.

Ein anderes Phänomen ist die Begleitung der Polizeiaktivitäten durch die Bürger. Diese kann im Extremfall tatsächlich den Polizeierfolg verhindern oder zumindest erschweren. Wenn Augenzeugen die Aktivitäten der Polizei beschreiben und ihre Beobachtungen dann zum Beispiel auf facebook teilen, könnten Täter dadurch informiert werden, was die Polizei gerade unternimmt, wo Polizeieinheiten suchen und was die Polizei plant.

Die Polizei in München hat auf diese Herausforderung gut reagiert und die Menschen per facebook und twitter aufgefordert, ihre Videos und Fotos auf einen Polizeiserver hochzuladen und bitte keine Berichte über Polizeiaktivitäten zu posten.

Aufruf der Polizei per facebook Bild- und Videomaterial von "der Schießerei" zur Auswertung auf den Polizeiserver zu laden.
Aufruf der Polizei per facebook Bild- und Videomaterial von „der Schießerei“ zur Auswertung auf den Polizeiserver zu laden.

Über die Katastrophenschutz-App KatWarn  wurde ebenfalls kommuniziert, das dürfte das erste Mal gewesen sein, dass die App im Rahmen eines Amoklaufs zur Unterrichtung der Bevölkerung eingesetzt wurde.

facebook hatte noch am Abend den erst kürzlich eingeführten Safety-Check aktiviert, mit dem Bewohner Münches mitteilen können, dass sie in Sicherheit sind. Auf twitter setzte sich der Hashtag #OffeneTür durch, mit dem Bewohner anderen Menschen Unterschlupf anbieten oder selbst einen sicheren Ort suchen können.

So haben die Netzwerke in dieser Krise eine sehr wichtige Rolle gespielt. Einerseits zur Herstellung einer Übertreibungssituation, die die Polizei zu einer stärkeren Reaktion veranlasste, als  lokal begrenzter Amoklauf bedingt hätte. Andererseits haben die Netzwerke aber auch wieder zur Beruhigung und Bewältigung der Ausnahmesituation beigetragen.


Das Dilemma der Tageszeitungen: Redaktionsschluß für die gedruckte Ausgabe

Der Amoklauf in München zeigt wieder einmal das Dilemma der Tageszeitungen: Nur Informationen, die bis Redaktionsschluß vorliegen, können verwendet werden. Was nach dem Redaktionsschluß passiert oder korrigiert werden müsste, kann für die Printausgabe nicht mehr berücksichtigt werden. So erscheint die Tageszeitung am nächsten Morgen mit einem Aufmacher, der die tatsächlichen Ereignisse zum Teil falsch wiedergibt.

Die im Weserbergland erscheinende Tageszeitung DEWEZET macht heute mit einem Bild auf, das um die Bildunterschrift

Polizisten in Spezialausrüstung stehen in München am Stachus und sichern nach einer Schießerei das Gelände

ergänzt wird. Es wird dadurch der Eindruck erweckt, dass es auch am Stachus zu einer Schießerei gekommen sei.

Der Aufmacher-Artikel erscheint unter der Überschrift

Terror im Einkaufszentrum – München im Ausnahmezustand

Das Thema des Tages auf Seite drei ist ebenfalls der Amoklauf, hier lautet die Überschrift:

Ich will nicht sterben

München im Ausnahmezustand – der Terroranschlag lähmt eine ganze Stadt

Der Aufmacher beginnt wie folgt:

Terror und Panik in München: Bei einem Anschlag an einem Einkaufszentrum sind gestern Abend mindestens acht Menschen ums Leben gekommen…

Es wird der Eindruck erweckt, es habe sich um einen Terroranschlag gehandelt. Dazu passen auch die Zitate von Politikern, die in den Artikel übernommen wurden.

Natürlich berichten alle Tageszeitungen über die Ereignisse in München. Eine gute Zusammenstellung der heutigen Titelseiten hat Meedia veröffentlicht. Die meisten Zeitungen schreiben tatsächlich Terror in München.

Die Tageszeitungen können aufgrund ihres Herstellungsprozesses und der benötigten Zeit für die Distribution bei der Aktualität nicht mithalten. Das wird nicht nur in der Krise deutlich. Als Deutschland das Halbfinale in der Europameisterschaft gegen Frankreich verlor, machte die BILD am nächsten Morgen mit einer Tennisgeschichte auf – das verlorene Spiel war erst nach Redaktionsschluss beendet.

Sie können aber auf ihr Internetportal verweisen und den Leser einladen, den aktuellen Stand auf der Homepage nachzulesen.

Polizei-Pressesprecher Marcus da Gloria Martins wird zum Helden der Nacht

Die Polizei in München reagierte auf den Amoklauf sehr schnell und professionell. Sie informierte zeitnah über den Stand der Dinge und es fällt auf, dass sie sich stark der sozialen Medien bedient und dabei auch einen lockeren Sprachstil verwendet. So werden die Leser geduzt und immer wieder direkt angesprochen. „Die meinen mich persönlich“ ist der Eindruck beim Lesen.

Marcus da Gloria Martins, der erst seit Oktober letzten Jahres Polizei-Pressesprecher der Landeshauptstadt ist, soll diesen Stil eingeführt und den sozialen Medien insgesamt einen höheren Stellenwert in der Kommunikation eingeräumt haben.

Marcus da Gloria Martins bei der Pressekonferenz heute (Screenshot von der Live-Übertragung)
Marcus da Gloria Martins bei der Pressekonferenz heute (Screenshot von der Live-Übertragung)

Auch die verwendeten Begriffe sind gut gewählt. Die Polizei spricht von einer „Schießerei“, während in Medien und sozialen Netzwerken das Wort „Terrorangriff“ immer häufiger verwendet wird. Das lag natürlich auch an den vielen Falschmeldungen und Gerüchten.

Polizei-Pressesprecher Marcus da Gloria Martins führt seine Organisation besonnen und ruhig durch die Krise und informiert die Journalisten und die Öffentlichkeit ruhig und kompetent. Wenn er etwas sagte, dann fühlte man sich informiert, wenn er etwas nicht sagen konnte, dann begründete er das. Ein gutes Beispiel ist das folgende Statement und  und die Antworten auf die Zwischenfragen

Auch durch die Pressekonferenzen führt da Gloria Martins souverän, erlaubt keine Kettenfragen und gibt so jedem Journalisten die Möglichkeit, seine Frage zu stellen. Er springt rein, wo es nötig ist und hält sich zurück, wenn es gut läuft.

Auf facebook hat da Gloria Martins seit gestern Nacht eine Fanseite, auf der sich viele sehr positiv über seine Leistungen äußern. Als „Person des öffentlichen Lebens“ hat die Seite für Martins bereits 9355 Fans gesammelt.

Resumee:

Das Drama von München zeigt wie im Zeitraffer den Ablauf einer Krise, wie sie auch bei Unternehmen ablaufen kann:

  1. Erste Meldungen über soziale Netzwerke
  2. Die Medien steigen auf das Thema ein
  3. den Fakten werden Gerüchte und Falschaussagen hinzugefügt (Subjektivierung des Sachverhaltes)
  4. Übertreibungsphase (alle berichten, Empörung oder gar Panik ist groß)
  5. Abklingphase (Objektivierung des Sachverhaltes)
  6. Ende der Krise (Auswertung)

Diese Stufen haben in München vor dem Hintergrund einer terroristischen Gefährdung zusammen weniger als 24 Stunden gedauert. Bereits um 12 Uhr heute Mittag gab es die erklärende Pressekonferenz – die Auswertung hat damit bereits begonnen.

Nun könnte man meinen, dass die Falschaussagen und Übertreibungen bei Unternehmens- oder Produktkrisen nicht vorkommen würden. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Tatsächlich haben sich auch Unternehmen auf Falschinformationen, Übertreibungen und unzulässige Schlußfolgerungen einzustellen. Dem begegnet man sachlich, freundlich und mit verständlichen Erklärungen. Und man bereitet sich darauf vor. Dazu dienen zum Beispiel Media-Trainings, in denen bewusst provokante bis hin zu unfaire Fragen gestellt werden.

Werbung:

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.